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Kernkompetenz: Im Heavy Metal Schuppen hinter der Box schlafen

Ich erklärs ja schon...

 

Aber ich muss dazu ein wenig ausholen und wir unternehmen kurz eine Reise in die Vergangenheit.

 

Es war nicht 1996, sondern eher in den Anfängen der 2000er, eine Zeit, in der ich mit meinen besten Freundinnen gerne ein ganz besonderes Etablissement (kein Puff!) aufsuchte. Zumeist hatten wir bis Mitternacht den Abend bereits in schäbigen Kneipen verbracht, ein Damengedeck zu uns genommen (Kölsch+Jägermeister), viele schräge Vögel und nette Menschen kennengelernt, bevor wir uns zu diesem einzigartigen Ort aufmachten. Manchmal hatten wir auch noch einige der schrägen Vögel im Schlepptau, das lag manchmal auch daran, dass eine meiner Freundinnen keine Tomaten mag.

 

Höllenartiger im Ersteindruck habe ich im Übrigen später nur Indoor-Spielplätze empfunden.

 

Es war ein Kellerschuppen, voll mit Menschen unterschiedlichster Art, zusammengehalten durch den Drang, zu richtig harter Musik zu feiern. Wenn sie jetzt an harte Musik denken, könnte es sein, dass diese Art von Musik dort manchmal lief und mit begeistertem „oh, ein Schlager“ gefeiert wurde.

 

Ich habe dort Vorstandsassistenten großer Konzerne kennengelernt, niedliche Studenten mit Dreadlocks und Flecken im Auge, optisch grenzwertig gewaltbereit aussehende junge Männer mit Liebeskummer und unzählige weitere individuell originelle Exemplare.

 

Die Nächte waren also lang, laut und Alkohol war auch im Spiel. Ein unfassbar chaotischer Laden möchte man meinen, mit allerdings vielen Ordnungssystemen, gut verborgen in der Dunkelheit. In einer Art Langzeitstudie haben wir zum Beispiel herausgefunden, dass irgendwo zwischen 1.30 und 2.00 ein magischer Zeitpunkt lag, an dem zuverlässig vielen Menschen - begründet offenbar durch Entkräftung – das Kölschglas aus der Hand rutschte. Klirrte es also ansonsten zu jeder Zeit mal hier und mal da - gab es immer einen bestimmten Zeitpunkt, zu dem es plötzlich gefühlt überall gleichzeitig klirrte. Verwunderlich. 

 

Ein System, eine zeitlich begrenzte Gesellschaft oder Organisation. Du passt dich an oder du wirst abgestoßen. Du kannst auch zu den ersten lieblichen Klängen eines System of a Down Songs auf die Tanzfläche gleiten und elfenhaft dreinschauen, weil du nicht weißt, was gleich kommt. Könnte sein, dass du dann 30 Sekunden später durch die Luft gewirbelt wirst.

 

Wenn du dich vorher benommen hast, wirst du aufgefangen. Und darauf basiert auch meine Grundvermutung, dass Anhänger harter Musik zumeist sehr freundliche Menschen sind. Auf der Tanzfläche sieht es wild aus, aber es kommt niemand zu Schaden. Ich würde fast behaupten, dass beim pogen gegenseitige Rücksichtnahme oberste Priorität hat. Man haut einfach niemanden beim Tanzen um und lässt ihn liegen. Es sei denn, man ist ein Depp.

 

An der Tanzfläche gibt es immer einen äußeren Ring, in dem stets ein gewisser Gegendruck erzeugt, und die „fliegenden Personen“ aufgefangen werden. Mal schubst einer zu fest (Gewicht überschätzt oder einfach schlechten Tag erwischt), mal rutscht einer aus, mal kippt einer um. Mal muss man jemanden umdrehen, mal einfach liebevoll zurückschubsen. Menschen mit und ohne Bier in der Hand, frisch geduscht oder auch nicht. Ich persönlich habe es nie erlebt, dass einem Gestürzten nicht gleich mehrere Hände entgegengestreckt wurden, um ihn aufzuheben.

 

Man schützt das Bodenpersonal auch durch stabile Körperhaltung mit erhobenen Händen, klopft den Aufgestandenen kurz auf den Rücken und wischt sich danach die Hände an der Hose ab. Passiert das 2-3 Mal mit der gleichen Person, kann es sein, dass man einen neuen Freund gefunden hat.

 

Es ist laut. Unfassbar laut. Und heiß. Das Wasser (Wasser. Es ist Wasser) tropft von der Decke, es ist rutschig. Der Jägermeister kostet 1€. Dein Kölschglas ist schon wieder weg, du kommst völlig fertig von der Tanzfläche, da spielt der dein Lieblingslied. Es wird spät. Oder halt sehr früh. Und zwischendurch bist du einfach nur total fertig, dummerweise siehst du in den Augen deiner Freunde, dass diese Nacht noch lange nicht zuende ist.

 

Und dann gibt es Leute – und zwar diverse, wir haben das in all den Jahren immer wieder beobachtet und auch später noch bei vielen, die den Laden kannten, abgefragt – Es gibt also Leute, die dann auf die Bühne (so 40cm hoch) klettern, sich rücklings an die Box lehnen und in diesem Inferno: Schlafen.

 

Langer Bogen – aber jetzt sind wir da. Warum das eine Kernkompetenz ist. Und kleiner Spoiler: Ich kann es nicht.

Ich denke, es ist eine wunderbare Eigenschaft, von der Existenz dieser Dynamik, die um dich herum herrscht, sehr wohl zu wissen, sie aber ignorieren zu können.

 

Auszublenden, was du alles tun könntest, was die Geräusche, der Geruch und die optischen Eindrücke als Rahmen geben und damit eigentlich etwas zu erzwingen – du solltest tanzen, noch ein Bier trinken oder dich sonstwie amüsieren. Aber du triffst die bewusste Entscheidung, gegen die äußeren Umstände, um deinen Bedürfnissen Folge zu leisten.

 

Du sagst bewusst „nein danke“. Da könnte man ja auch den Laden verlassen. Das wäre demzufolge ein „Danke, ich habe genug“. Hinter der Box zu schlafen, ist aber ein sehr entspanntes – „um euch kümmere ich mich später“ – und ich weiß, dass ihr da seid und das ist auch ok, aber bin mal kurz raus.

 

Eine Fähigkeit, sich dem Wahnsinn des Umfeldes zu entziehen, für eine kurze Weile nur. Aber nur ein Stück, denn es ist ok, dass er da ist, der Wahnsinn. Aber ihr, die ihr das könnt, geht mal kurz an den Rand. Den Wahnsinn hörend und riechend, ihn nicht als störend empfinden.

 

DAS ist eine Kernkompetenz. Nicht mitmachen zu müssen. Nicht stressen lassen, weil es augenscheinlich keinen Ausweg gibt, aus dem Mitmachen in dieser lauten, singenden und schwitzenden Gesellschaft. Und dennoch zu wissen, dass es da ist. Den Wunsch, „dabei zu sein“ zu pausieren – und dabei eine kleine Brise Glück zu spüren. Weil der Wahnsinn da ist, ganz nah, aber man sich einfach mal eine Pause nimmt.

 

Nehmen wir an, dieser Schuppen ist ihr Kopf, ihre Gedankenwelt. So unglaublich wirre, so viel passiert, so viel Lärm. 

Oder die Rahmenbedingungen im Job. 

Oder eine unaufgeräumte Wohnung. 

 

Und dann nochmal: Es ist eine unfassbare Kernkompetenz, akzeptieren zu können, dass es da ist. Das es wild zugeht und das es ok ist. Kümmere ich mich später drum.